Gianni Arnaudo: Die Entwicklung eines Pop-Gedankens
2. Januar 2017

Gianni Arnaudo absolvierte 1971 die Fakultät für Architektur des Turiner Polytechnikums, an der 1969 im Rahmen der internationalen Konferenz Utopia und/oder Revolution die Radikalen von Archigram das von Michael Webb entworfene Cushicle präsentierten. In diesem Klima begann Arnaudos berufliche Karriere im Architekturbüro Studio 65, bei dem er zwischen 1970 und 1975 als einer der Hauptakteure fungierte.
Hier entstehen seine ersten radikalen Architekturprojekte, die in Zusammenarbeit mit der Fertigungsstätte/dem Labor Gufram konkret werden und sich nach Ausstellungen wie der 1972 von Emilio Ambasz für das MoMa in New York zusammengestellten New Domestic Italian Landscape international etablieren. Einige Werke aus dieser Zeit, darunter die Sessel Bocca, Capitello und Attica, schaffen es in die ständigen Sammlungen bedeutender Museen wie dem Denver Museum of Modern Art, dem Vitra Museum in Basel, dem Musée des Arts Décoratifs des Louvre, dem Centre Pompidou Musée National d’Art Moderne in Paris und dem Metropolitan Museum in New York.
Sein erstes mit dem Studio 65 umgesetztes architektonisches Werk ist der Komplex Flash Back in Borgo San Dalmazzo (Cuneo). Das Projekt schafft es auf das Cover der Zeitschrift Domus und zeugt von der originellen Sprache Arnaudos, die auf einem grundlegenden Interesse an Forschung, Experimenten und Beziehungen zum sozialen und territorialen Kontext beruht.
Seitdem wird die Liste der allein oder in Zusammenarbeit umgesetzten Werke und Projekte, unter anderem für öffentliche Gebäude, Schulkomplexe, Einkaufszentren, Museen, Sportzentren, Industriekomplexe, Weinkeller und vieles mehr, immer länger. Dazu gehören: die Champagnerie Lamborghini Contact (Monte-Carlo), die Büroräume für die Olympischen Spiele (Atlanta), das Sportzentrum von Montreal (Kanada), die Büros des japanischen Konsulats (Monte-Carlo), der Weinkeller von Terre da Vino in Barolo (vorgestellt bei der 13. Ausgabe der Biennale von Venedig in der Ausstellung die Kathedralen des Weins), der neue Flughafen von Cuneo, das Museum der Republik Kap Verde und das Museum Design Hotel des Castello di Montaldo Torinese; der Ausbau des Industriekomplexes des Süßwarenherstellers Maina in Fossano und des Weinguts Sandra in Barolo, der erste Pop-Weinkeller der Welt. Letzteres wurde in Form von zwei überlappenden Holzkisten zwischen den Weinbergen konzipiert und war Gegenstand einer Pressekonferenz im italienischen Pavillon der 13. Ausgabe der Biennale von Venedig. In diesem Zusammenhang muss man darauf hinweisen, dass Gianni Arnaudo mit seinen Werken bereits auf der 10., 11., 12., 13. und 14. Ausgabe der Biennaleder Architektur in Venedig vertreten war.
Darüber hinaus beaufsichtigte er die Vorbereitung von international renommierten Ausstellungen wie die „Pop Design – fuori Luogo, fuori Schema“ (Pop-Design – Außerhalb des Maßstabs, außerhalb der Norm“) für die World Design Capital in Turin. Als Ergebnis zahlreicher Zusammenarbeiten mit bedeutenden Unternehmen der Design- und Einrichtungsbranche entstanden der Sessel Va Pensiero, das Sofa You welcome und der originelle Tisch Dejeuner sur l’arbre, die 2005 auf der Möbelmesse in Mailand und 2006 auf der Biennale des Designs in St. Etienne ausgestellt und mittlerweile für die ständige Sammlung vom Centre Pompidou erworben wurden.
Sein intensives Schaffenswerk ist in dem Buch Opacità e Trasparenza (Arca Edizioni) zusammengefasst, in dem seine Werke aus den späten 90er Jahren gesammelt wurden und das die zahlreichen Ausstellungen dokumentiert, die ihm bedeutende Kultureinrichtungen wie das Centre Pompidou – Musée National d’artModerne in Paris, das Powerhouse Museum of Modern Art in Sidney, das Kulturzentrum Frac – Nord, Pas de Calais, das Musée National d’Art Moderne in Brest, die Biennale in Saint Etienne und nicht zuletzt der Fonds regional d’art contemporain in Dünkirchen gewidmet haben. Zu den neuesten zählen das Pop ArtDesign, das Vitra Museum in Basilea, das Louisiana Museum in Kopenhagen, das Moderna Museet in Stockholm und das Barbican Center in London.
Unter den zahlreichen Auszeichnungen ist der Internationale Architekturpreis Dedalo Minosse in den Ausgaben von 2004, 2006 und 2008.
Der Begriff der radikalen Architektur wurde in den frühen 70er Jahren von dem Kritiker Germano Celant geprägt und bezieht sich auf einen allgemeinen Prozess der konzeptuellen Neugründung des Disziplinbereichs, der bereits Ende der 50er Jahre mit der Erforschung eines utopischen und visionären Charakters im Rahmen eines tiefgreifenden Prozesses damit begann, die verschiedenen Projektbereiche durch eine provokative und innovative Pop-Sprache neu zu definieren und in Vorschläge mit starkem utopischem Potenzial und großer visionärer Wirkung umzusetzen. Diese Forschung stellte den traditionellen rationalen und mechanistischen Ansatz zwischen Form und Funktion in Frage.
Nach dem Einschlag dieses „Pop-Meteors“ war nichts mehr wie zuvor. Um allen, die die Ereignisse dieser Avantgarde und die respektlosen und innovativen Auswirkungen der radikalen Architektur- und Designbewegung nicht miterlebt haben, besser verständlich zu machen, haben wir Gianni Arnaudo, einen der beteiligten Protagonisten, um seine Hilfe gebeten. „Es gibt viele Definitionen für die Kunst und die Pop-Bewegung. Das gemeinsame Merkmal ist, wie aus einem Kommentar der jüngsten Ausstellung der GAM in Turin (das Frühwerk von Roy Lichtenstein, September – Januar 2015), der Versuch, Objekte auszuwählen, die der Geist bereits kennt, und sie auf anderen Ebenen zu bearbeiten“.
Das radikale Design, betont Arnaudo, fügt dieser Methode eine weitere Bedeutung hinzu, die sich in dem Konzept eines „kritischen Projekts“ äußert, also: „Die Verwendung architektonischer und gestalterischer Formen als Werkzeug, um die Widersprüche der sich verschlechternden Aspekte des zeitgenössischen Kulturprodukts bildlich und unmittelbar explodieren zu lassen”.
Der kreative und gestalterische Ansatz von Gianni Arnaudo entwickelte sich ebenfalls nach diesen Grundsätzen und ist bereits in seinen ersten Werken erkennbar, die als „Multipli“ berühmt wurden und zwischen Anfang und Mitte der siebziger Jahre im Kontext von Studio 65 entstanden. Es sind industriell gefertigte Gegenstände, Stühle und Installationen in limitierter Auflage, die später als ikonische Elemente übernommen und in vielen Museen der Welt gesammelt und ausgestellt wurden und zu den besten Beispielen radikalen Designs zählen. Als Manifest fungiert in diesem Zusammenhang sicherlich das von Gianni Arnaudo für das Studio 65 entworfene und produzierte Schreibpapier, das nicht nur grafisch, sondern auch gestalterisch den Multipli am nächsten kommt und das die vier historischen und jungen kreativen Partner zeigt, die diese Erfahrung im Geist der Zeit animiert haben, indem sie die berühmtesten Gegenstände der Gufram-Produktion entwarfen, einem kleinen Unternehmen aus Nole Canavese, das offen und empfänglich für neue kreative Formen und das Experimentieren mit innovativen Materialien ist. Die vom Centre Pompidou in Paris organisierten Ausstellung Big Bang – Destruction et création dans l’art du 20e siècle (Urknall – Zerstörung und Erschaffung der Kunst des 20. Jahrhunderts) zählte die Person von Gianni Arnaudo zu jenen Persönlichkeiten, die die bedeutendsten künstlerischen Wendepunkte des 20. Jahrhunderts markierten.
„Viele meiner Werke, die im Einzelnen auch nach dem Loslösen vom ursprünglichen Partner Studio 65 im Jahr 1976 entstanden sind, sind für Liebhaber, Museen und Sammler weiterhin ein Bezugspunkt, als ikonischer Ausdruck der Pop-Seele gegenüber den vorherrschenden Mythen und Riten der Architektur und des Designs der Banalität“.
Entweihung und Ironie sind die Werkzeuge, mit denen Arnaudo seine Projekte entwickelt. In diesem Sinne wird in seinen Interviews niemals mehr als eine Randerwähnung über des heute geläufigen Thema der Erforschung neuer Materialien oder neuer Bautechniken auftauchen.
„In Wirklichkeit ist das Wichtige für die Inspiration die Botschaft des Designs oder der Architektur und nicht das Werkzeug oder das Material, um sie zu erschaffen. Ich halte es natürlich für selbstverständlich und banal, dass man auf die Forschung, auch in Zusammenarbeit mit der italienischen Industrie, die dafür viele Ressourcen einsetzt, nicht verzichten kann”.